Reichsbürger – politische und juristische Betrachtungen
A. Einleitung
„In der Regel sind es Leute, die mit ihrem Leben nicht zurecht kommen, ehemalige Polizisten oder Offiziere, die wegen Stasiverbindungen entlassen wurden. „Meist aber sind es ganz normale Menschen, die staatlichem Druck ausgesetzt sind, beispielsweise durch Bußgeldsachen, aber auch Zwangsversteigerungen. Indem sie den Staat und damit geltendes Recht nicht anerkennen, glauben sie, sich auf diese Weise einer Strafverfolgung entziehen zu können“, so der Amtsgerichtsdirektor.“ ( Quelle: Sächsische Zeitung )
„Reichsbürgerbewegung ist ein Sammelbegriff für eine organisatorisch und ideologisch sehr heterogene Szene aus meist Einzelpersonen, seltener teilweise sektenartigen Klein- und Kleinstgruppen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als legitimer und souveräner Staat bestreiten sowie seine Repräsentanten und die gesamte deutsche Rechtsordnung fundamental ablehnen.[1][2] Zu den von sogenannten Reichsbürgern vertretenen Ideologien gehören oft die Ablehnung der Demokratie, Ideologieelemente des Monarchismus, Rechtsextremismus, Geschichtsrevisionismus und teilweise Antisemitismus, Esoterik bzw. Rechtsesoterik oder die Leugnung des Holocausts. Sie teilen eine Haltung der Ablehnung einer offenen und pluralistischen Gesellschaft und weigern sich, unter anderem Steuern und Bußgelder zu zahlen oder Gerichtsbeschlüsse und Verwaltungsentscheidungen zu befolgen.“ ( Quelle:: Wikipedia )
B. Wer sind die sogenannten Reichsbürger ?
Als Rechtsanwalt begegnet man früher oder später Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre Institutionen fundamental ablehnen. Einige von ihnen kollidieren mit dem geltenden Recht, andere erleben schwierige Lebensumstände, die die ablehnende Haltung zumindest begünstigt haben, und wieder andere stoßen in ihrem privaten Umfeld auf Probleme wegen ihrer politischen Ansichten.
Diejenigen, die das „System“ ablehnen, sind nicht zwangsläufig kriminell, unmenschlich, unsympathisch, dumm, bösartig, militant oder antidemokratisch. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen.
Reichsbürger ähneln in ihrem Verhalten oft Anhängern einer Sekte. Sie entwickeln ein geschlossenes Weltbild, das innerhalb eines ebenso geschlossenen Umfelds gestützt wird. Wie Gläubige einer Sekte verspüren sie häufig den Drang, andere – vor allem ihnen sympathische Personen – aus ihrer vermeintlichen „Ahnungslosigkeit“ zu befreien. Versucht man als Anwalt, an diesem Weltbild zu rütteln, ziehen sie sich meist zurück. Gleichzeitig suchen Reichsbürger gezielt Anwälte auf, die ihre Sichtweise teilen.
Der eingangs zitierte Amtsgerichtsdirektor irrt jedoch, wenn er annimmt, dass ein typisches Merkmal eines Reichsbürgers sei, dass sie sich der Strafverfolgung zu entziehen wollten. Ich habe Reichsbürgerim mittleren zweistelligen Bereich kennengelernt. Keiner von Ihnen war zu dem Zeitpunkt vorbestraft. Lediglich eine Person versuchte, sich mit vermeintlich guten Argumenten einer Zwangsversteigerung und -vollstreckung zu entziehen. In einem weiteren Fall erwartete ein Mandant, dass ich ihn den bundesrepublikanischen Gesetze entziehe, weil ja die Reichsgesetze gelten würden.
Matthes Haug, einer der selbsternannten „Vordenker“ der Reichsbürgerbewegung, behauptete in einem Telefonat mit mir, er habe sich durch sein Wissen um den angeblichen Fortbestand des Deutschen Reiches der bundesrepublikanischen Gerichtsbarkeit erfolgreich entzogen. Belege dafür konnte er jedoch nicht vorweisen. Die Unterlagen, die er mir zusandte, belegten eher das Gegenteil: den Fortbestand der deutschen Justiz. Interessanterweise wird auf Wikipedia behauptet, Haug sei vorbestraft, was allerdings ebenfalls nicht belegt ist.
Auch die sogenannten Reichsbürger der „Patriotischen Union“ um Heinrich XIII. Prinz Reuß waren zuvor nicht durch Kriminalität oder dubiose Lebensläufe auffällig. Viele von ihnen waren sogar im Staatsdienst tätig. In einem Artikel der Taz vom 17. Juli 2024 beschreibt der Journalist die Angeklagten als freundlich und umgänglich.
Ich bin gespannt, welche Erkenntnisse die laufenden Prozesse gegen die „Patriotische Union“ noch bringen werden. Nach bisherigem Stand wurden etwa 25 Personen inhaftiert. In den Beschlüssen des Bundesgerichtshofs heißt es, die Haftbefehle seien wegen des dringenden Tatverdachts schwerer Anschlagsdelikte und aufgrund von Fluchtgefahr gerechtfertigt.
C. Wie viel Bundesrepublik wird von den Reichsbürgern bestritten?
Allen Reichsbürgern ist gemein, dass sie die Legitimation der Bundesrepublik Deutschland fundamental in Frage stellen. Manche gehen sogar so weit, die Existenz der Bundesrepublik als Gebietskörperschaft vollständig zu leugnen. Die von Reichsbürgern vorgebrachten Argumente für ihre Ablehnung sind vielfältig und oft widersprüchlich:
- Fortbestehen des Dritten Reichs: Einige behaupten, das Deutsche Reich existiere in der Fortsetzung des sogenannten Dritten Reichs weiter, da eine ordnungsgemäße Kapitulation nicht stattgefunden habe.
- Besatzungsmacht-Theorie: Andere argumentieren, dass das Deutsche Reich mangels Friedensverträgen bis heute unter der Besatzungsmacht fortbestehe.
- „BRD GmbH“-Theorie: Manche vertreten die Ansicht, die Bundesrepublik sei lediglich eine GmbH, eine Art Unternehmenssimulation, und Wahlen sowie Gerichtsbarkeit seien reine Inszenierungen.
- Fortbestehen der Weimarer Republik: Eine weitere Gruppe behauptet, das Deutsche Reich bestünde als Weimarer Republik fort, da das Dritte Reich unter Adolf Hitler verfassungsrechtlich nicht legitimiert gewesen sei.
- Kaiserreich-Theorie: Einige glauben, dass das Deutsche Reich in der Form des Kaiserreichs fortbestehe, weil die Weimarer Republik ihrer Ansicht nach keine rechtliche Legitimation besessen habe.
D. Wie wird die Legitimität oder der Bestand der Bundesrepublik bestritten?
- Das „Personalausweis“-Argument Das wohl bekannteste und gleichzeitig absurdeste Argument der Reichsbürgerbewegung ist die Behauptung, der Personalausweis belege, dass Bürger lediglich „Personal“ einer GmbH seien. Diese Argumentation ist vergleichbar mit dem naiven Gedankengang eines Kindes, das fragt, ob aus Kindern Kinderwurst gemacht wird. Reichsbürgern, die dieses Argument vorbringen, rate ich, stattdessen einen Reisepass zu beantragen – mit der Frage im Hinterkopf, ob sie damit wohl zum Gesellschafter, Geschäftsführer oder Aufsichtsrat einer „BRD GmbH“ werden könnten.
- Staatsbürgerschaftsnachweis als „Lösung“ Manche Reichsbürger glauben, das Problem ließe sich durch einen Staatsbürgerschaftsnachweis lösen. Dabei widersprechen sie jedoch ihrer eigenen GmbH-Theorie. Denn es stellt sich die Frage, was ein Staatsbürgerschaftsnachweis mit der Existenz oder Struktur einer angeblichen GmbH zu tun haben könnte.
- Rechtswissenschaftliche Betrachtung Wer sich eingehend mit dem GmbH- und Vereinsrecht beschäftigt, erkennt schnell, dass ein Staat als Gebietskörperschaft rechtlich nicht mit einer GmbH – einer zivilrechtlichen Körperschaft – gleichgesetzt werden kann. Selbst wenn staatliches Handeln, wie etwa das Eintreiben von Bußgeldern oder übermäßige Steuererhebungen, gelegentlich als übergriffig empfunden wird, ändert das nichts an der grundlegenden Natur des Staates. Ein Staat ist eben keine zivilrechtliche Körperschaft, deren primärer Zweck die Gewinnerzielung ist. Auch bei berechtigter Kritik an mangelnder Transparenz, Vetternwirtschaft oder ineffizienter Verwendung öffentlicher Gelder bleiben die Kernaufgaben eines Staates klar: die Wahrnehmung öffentlicher Interessen und die Bereitstellung von Diensten für die Allgemeinheit. Der umfangreiche Beamtenapparat ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Prioritäten einer staatlichen Körperschaft nicht auf Gewinnmaximierung, sondern auf der Erfüllung öffentlicher Aufgaben liegen.
Dass einige Behörden im Wirtschaftsverkehr eine UPIK- / D-U-N-S- oder Umsatzsteueridentifikationsnummer verwenden, ist ihrer Teilnahme am Wirtschaftsverkehr geschuldet. Diese Nummern sind teilweise erforderlich, da Lieferanten nur auf dieser Grundlage ohne zusätzliche Identitätsprüfungen liefern können. Die USt-IdNr. gilt europaweit und erleichtert die steuerliche Abwicklung.
Da die Bundesrepublik Deutschland selbst nicht die kaufmännische Eigenschaft gemäß § 19 Börsengesetz (BörsenG) erfüllt, nutzt sie die Bundesrepublik Finanzagentur GmbH, um Staatsanleihen an den Börsen zu platzieren. Eine GmbH hat stets die Eigenschaft eines Kaufmanns. - Weltpostverein / Weltpostvertrag Absurd ist es, den angeblichen Nichtbestand der Bundesrepublik Deutschland am Weltpostvertrag festzumachen. Der Weltpostverein bzw. der Weltpostvertrag ist Teil der Vereinten Nationen (UN). An den Sitzungen nehmen Vertreter des deutschen Wirtschaftsministeriums teil.
- Diffuse Argumentation zum internationalen Seerecht Der behauptete Nichtbestand der Bundesrepublik Deutschland oder ihre angebliche fehlende Souveränität wird teilweise diffus auf das internationale Seerecht gestützt. Diese Behauptungen werden jedoch in der Regel lediglich in den Raum gestellt, ohne sie substantiiert zu begründen. Das internationale Seerecht umfasst eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge und ist in seiner Anwendung klar geregelt. Einige behaupten, dass das Seerecht dem Landrecht vorgehe. In diesem Zusammenhang wird auch behauptet, dass das Preußische Landrecht vom Seerecht überlagert werde. Diese Behauptung ist unsinnig, da das Preußische Landrecht zumindest das Binnen-Seerecht regelte. Es wird weiterhin behauptet, deutsche Gerichte urteilten nach internationalem Seerecht. Für diese Aussage fehlen jedoch jegliche Belege. Im Gegenteil, die tagtägliche Rechtsprechung belegt das Gegenteil solcher Behauptungen.
- Unterstellungen über die International Bar Association (IBA) Einige Reichsbürger behaupten, dass Staatsanwälte, Gerichte und Rechtsanwälte nicht der deutschen Rechtspflege unterstehen, sondern der International Bar Association (IBA) angehören und von dort gesteuert würden. Ich persönlich bin ausschließlich und zwangsweise Mitglied der Rechtsanwaltskammer Hamm. Weitere berufsständische Mitgliedschaften habe ich nicht. Von der Existenz der IBA habe ich erst kürzlich erfahren. Deutsche Gerichte und Staatsanwälte gehören der IBA auch nicht an, zumindest nicht in einem erkennbaren oder relevanten Umfang. Die Behauptung, dass innerhalb der IBA weltweite Verschwörungen stattfinden, ist völlig unsubstantiiert und abwegig. Was hat die freie Anwaltschaft mit dem Machtgefüge in Deutschland oder anderswo zu tun? Ich bin jedenfalls nicht „gekauft“.
- Besatzungsrecht und angeblich fehlende Zulassungen Einige Reichsbürger, die von einem fortbestehenden „besetzten Deutschen Reich“ ausgehen, bestreiten meine Anwaltszulassung mit der Begründung, ich bräuchte eine Genehmigung von den Besatzungsmächten. Sie berufen sich dabei auf das Gesetz Nr. 2 der Militärregierung – Deutschland, Art. 5 Ziff. 9: „9. Niemand kann als Richter, Staatsanwalt, Notar oder Rechtsanwalt amtieren, falls er nicht seine Zulassung von der Militärregierung erhalten hat.“ Aus den gleichen Gründen müssten die Richter ihre Zulassung darlegen.
Die Reichsbürger übersehen dabei, dass gemäß Erster Teil, Art. 1 Abs. 1 des Überleitungsvertrags die Gesetzgebungsbefugnisse 1955 von den westlichen Militärregierungen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sind. Die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) wurde 1959 mit den heute gültigen Zulassungsbedingungen erlassen (vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2019, Az. AnwZ(Brfg) 40/18).
E. Warum sich die Reichsbürger-Theorien nicht halten lassen
I. Der Verweis auf SHAEF und das militärische Besatzungsrecht
Ein Teil der Reichsbürger beruft sich auf das SHAEF-Gesetz, also das militärische Besatzungsrecht der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich lohnt sich eine genauere Betrachtung der damaligen Rechtslage und der Militärgesetze:
„Die höchste gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Machtbefugnis und Gewalt in dem besetzten Gebiet ist in meiner Person als Oberster Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte und als Militär-Gouverneur vereinigt. Die Militärregierung ist eingesetzt, um diese Gewalten unter meinem Befehl auszuüben. Alle Personen in dem besetzten Gebiet haben unverzüglich und widerspruchslos alle Befehle und Veröffentlichungen der Militärregierung zu befolgen. Gerichte der Militärregierung werden eingesetzt, um Rechtsbrecher zu verurteilen. Widerstand gegen die Alliierten Streitkräfte wird unnachsichtlich gebrochen. Andere schwere strafbare Handlungen werden schärfstens geahndet.
Alle deutschen Gerichte, Unterrichts- und Erziehungsanstalten innerhalb des besetzten Gebietes werden bis auf Weiteres geschlossen. Dem Volksgerichtshof, den Sondergerichten, den SS-Polizei-Gerichten und anderen außerordentlichen Gerichten wird überall im besetzten Gebiet die Gerichtsbarkeit entzogen. Die Wiederaufnahme der Tätigkeit der Straf- und Zivilgerichte und die Wiedereröffnung der Unterrichts- und Erziehungsanstalten wird genehmigt, sobald die Zustände es zulassen.
Alle Beamten sind verpflichtet, bis auf Weiteres auf ihrem Posten zu verbleiben und alle Befehle und Anordnungen der Militärregierung oder der Alliierten Behörden, die an die deutsche Regierung oder an das deutsche Volk gerichtet sind, zu befolgen und auszuführen. Dies gilt auch für die Beamten, Arbeiter und Angestellten sämtlicher öffentlicher und gemeinwirtschaftlicher Betriebe sowie für sonstige Personen, die notwendige Tätigkeiten verrichten.“
Die Deklaration der Alliierten verdeutlicht die vollständige Kontrolle über das besetzte Gebiet:
„Die deutschen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind vollständig geschlagen und haben bedingungslos kapituliert, und Deutschland, das für den Krieg verantwortlich ist, ist nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen. Dadurch ist die bedingungslose Kapitulation Deutschlands vollbracht; und Deutschland unterwirft sich allen Forderungen, die ihm jetzt oder später auferlegt werden. Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen.“
Das Deutsche Reich wurde bis April 1945 militärisch vernichtend geschlagen. Die Gebietskörperschaft des Deutschen Reiches wurde durch die Besetzung de facto beseitigt, und das Territorium gelangte vollständig unter die Kontrolle der Besatzungsmächte. Die Staatsmacht und das Staatsterritorium des Deutschen Reiches waren komplett untergegangen. Teile des ehemaligen Reichsgebiets wurden später Polen zugesprochen.
Auf dem verbliebenen Besatzungsgebiet entstanden vier Jahre später neue Gebietskörperschaften: im Westen die Bundesrepublik Deutschland und in der sowjetischen Besatzungszone die DDR.
Mit dem Deutschlandvertrag von 1954 und dem Überleitungsvertrag von 1955 erlangte die Bundesrepublik Deutschland weitgehende Staatssouveränität. Die Besatzungsgesetze wurden sukzessive durch neue Bundesgesetze ersetzt. Mit dem Abschluss des Zwei plus Vier – Vertrags im Jahr 1990 wurde die Wiedervereinigung vollzogen, und die Bundesrepublik Deutschland erhielt ihre volle staatliche Souveränität.
Für die Anwendung der Militärgesetze ( SHAEF ) gibt es keine plausible Begründung.
II. Der Glaube an den Fortbestand des Deutschen Reiches
Die Historie ist (eigentlich) eindeutig: Nach der Drei-Elemente-Lehre besteht ein Staat, wenn er über ein Staatsvolk, eine Staatsgewalt und ein Staatsterritorium verfügt.
Mit der Besetzung des Reichsgebiets wurde die Staatsmacht des Deutschen Reiches von den Besatzungstruppen vollständig beseitigt. Die Exekutive wurde entweder physisch ausgeschaltet oder direkt dem Militärkommando unterstellt. Eine eigenständige deutsche Staatsgewalt existierte faktisch nicht mehr, erst recht nicht im Namen des Deutschen Reiches. Ebenso wenig gab es eine deutsche Führung, die als solche hätte agieren können. Die Verfassung des Deutschen Reiches, die zuvor als Grundordnung galt, wurde außer Kraft gesetzt.
Auch das Staatsterritorium des Deutschen Reiches war nicht mehr existent, da das gesamte Gebiet unter die Kontrolle der Alliierten gestellt wurde. Das Staatsvolk bestand ebenfalls nicht mehr als Einheit. In diesem Sinne hörte das Deutsche Reich faktisch auf zu existieren. Es wurde von den Alliierten vollständig beseitigt.
Einige Reichsbürger, die an den Fortbestand des Deutschen Reiches glauben, sehen sich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 bestätigt:
„Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre – geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG.“
Ob ein Staat existiert oder nicht, ergibt sich jedoch nicht kraft Gesetz. Ob die für einen Staat erforderlichen Elemente vorhanden sind, ist empirisch feststellbar. Auch der Gesetzgeber ist an Fakten gebunden.
„Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 [277]; 3, 288 [319 f.]; 5, 85 [126]; 6, 309 [336, 363]), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe, selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt ‚verankert‘ (BVerfGE 2, 266 [277]). Verantwortung für ‚Deutschland als Ganzes‘ tragen – auch – die vier Mächte (BVerfGE 1, 351 [362 f., 367]).“
Jedoch ist offensichtlich, dass weder ein gesamtdeutsches Volk noch eine gesamtdeutsche Staatsgewalt existierten.
„Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert (vgl. Carlo Schmid in der 6. Sitzung des Parlamentarischen Rates – StenBer. S. 70). Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘, in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“
Diese Aussage ist problematisch. Die Präambel des Grundgesetzes schildert die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als eigenständige Gebietskörperschaft durch den Beschluss des Grundgesetzes – einer Satzung, die von den neu entstandenen Bundesländern beschlossen wurde. Diese Bundesländer gab es in ihrer damaligen Form im Deutschen Reich gar nicht.
Die unklare und widersprüchliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hatte wohl das Ziel, den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands völkerrechtlich offen zu halten. Dabei wurde jedoch außer Acht gelassen, dass Staaten kraft Volkssouveränität zu einem neuen Staat fusionieren können.
Das Ergebnis dieser wenig überzeugenden Rechtsprechung ist der Nährboden, auf dem Reichsbürger-Theorien gedeihen konnten.
F. Persönliches Fazit
I. Umgang mit sogenannten Reichsbürgern
Ich hoffe, dass der Leser mithilfe meiner Ausarbeitung und den dazugehörigen Quellenangaben schneller zu eigenen, fundierten Schlussfolgerungen gelangt.
Der Umgang mit Anhängern dieser ideologischen Bewegung bleibt jedoch zeitaufwendig und wenig erfreulich. Sie erwecken zwar den Eindruck, an offenen Diskussionen interessiert zu sein, zeigen aber keine Bereitschaft, sich ernsthaft mit Gegenargumenten auseinanderzusetzen. Ihre Überzeugungen sind in der Regel festgefahren: Die Bundesrepublik Deutschland – in vielen Bereichen bedauerlicherweise schwach vertreten durch unfähige Politiker – wird als grundlegend schlecht dargestellt, während das „Deutsche Reich“ als vermeintliche Lösung und Befreiung von einem sogenannten Marionettensystem glorifiziert wird.
Aus ihrer Perspektive gibt es nur zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die ihre Überzeugungen teilen, und sogenannte „Systemlinge“, die das vermeintliche Unrecht stützen.
II. Das eigentliche Problem
Unser Hauptproblem in Deutschland ist weniger ein systemisches, sondern vielmehr das Versagen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, die auf Frieden und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist, durch eine kluge und verantwortungsvolle Politik zu bewahren und zu stärken.
Die unzureichende Gewaltenteilung, das fehlende Plebiszit, die negativen wirtschaftlichen Folgen ideologisch geprägter Politik sowie eine durchgängig konfrontative Rhetorik der Verantwortlichen gefährden die Glaubwürdigkeit unseres demokratischen Systems und die Wahrung der Grundrechte.
Keine einzige Epoche des „Deutschen Reiches“ bot ein besseres demokratisches System als die heutige Bundesrepublik. Daher ist es völlig abwegig, in den Ideen der Reichsbürger eine Lösung für unsere aktuellen Herausforderungen zu suchen.
III. Politisches Versagen und die Folgen
Die Politiker aller etablierten Parteien haben es in den letzten Jahrzehnten versäumt, die notwendigen Reformen einzuleiten und die Weichen für eine zukunftsfähige Politik zu stellen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland befindet sich seit einigen Jahren in einer Abwärtsspirale. Insbesondere in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die Gewaltenteilung nahezu nicht mehr existent.
Auch der Sozialstaat steht vor einer schrittweisen Auflösung und wird in den kommenden Jahren zunehmend dysfunktional werden. Die seit langem andauernde polarisierende Rhetorik der Regierung hat sowohl die Gesellschaft als auch die Außenpolitik stark gespalten.
Diese Spaltung führt dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht nur von Reichsbürgern als „Feindstaat“ betrachtet wird, sondern auch international an Ansehen verloren hat. Noch nie war die Bundesrepublik so unbeliebt wie heute.
IV. Lösung
Abstrakt: Die Lösung scheint auf den ersten Blick einfach: Eine Rückkehr zur freiheitlichen Grundordnung, wie sie die Gründerväter unseres Staates konzipiert haben, ist anzustreben. Ein zusätzliches Instrument, wie der Volksentscheid, sollte dazu beitragen, dass das Volk politische Eskapaden eindämmen kann.
Konkret: Die Umsetzung dieser Ziele liegt jedoch in weiter Ferne:
1. Veränderungswiderstände: Politische Parteien, ihre finanzierenden Akteure und oft auch Teile der Bürokratie haben als Profiteure der aktuellen Zustände kein Interesse an grundlegenden Veränderungen. Um das Vertrauen in die Demokratie und den Rechtsstaat aber zu stärken, müsste der Qualitätsstandard der Politiker und Behördenleiter deutlich verbessert, ihre Macht mit Hilfe einer konsequenten Gewaltenteilung, persönlichen Haftung und eines erweiterten Korruptionsbegriffs deutlich eingeschränkt werden.
2. Bevölkerungsakzeptanz: Solange staatliche Leistungen gesichert sind, besteht auch in der Bevölkerung keine übermäßige Bereitschaft, bestehende Strukturen in Frage zu stellen. Historische Beispiele wie Argentinien zeigen, dass es oft Jahrzehnte und verbreitete existenzielle Armut benötigt, bis eine Gesellschaft bereit ist, sich von sozialistischen Tendenzen zu lösen und die freiheitliche Grundordnung umfassend wiederherzustellen.
Ergebnis: Mit Veränderungen ist in den nächsten fünf Jahren nicht zu rechnen. Die Politik wird die Schuldenbremse lösen, Kritik mit Eskalationsrhetorik und mit weiteren Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit begegnen. Die Reichsbürgerbewegungen werden weiter wachsen und möglicherweise noch für Unruhen sorgen.