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Fünf Monate Haft wegen Verfahrensverzögerungen nach 52 Chaostagen – eine Rechtsprechungsanalyse

Einleitung

Der ehemalige Rechtsanwalt Rainer Füllmich wurde vom Landgericht Göttingen nach 53 Verhandlungstagen wegen gewerbsmäßiger Untreue in einem Fall mit einem Schadenvolumen von 700.000 EUR zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Prozessbeobachter beurteilen die 53 Verhandlungstage als chaotisch. Der Verurteilte schimpfte und beleidigte. Die Verteidiger kamen regelmäßig zu spät und fielen regelmäßig aus. Es wurden unsinnige Beweisanträge gestellt. 53 Chaostage auf Kosten der Steuerzahler.

Nichtanrechnung von 5 Monaten Untersuchungshaft auf die Gesamtfreiheitsstrafe

Das Landgericht rechnete – laut Medienberichten – dem Verurteilten das Chaos zu und will fünf Monate der 18 Monate Untersuchungshaft nicht anrechnen.

Gemäß § 51 Abs. 1 StGB wäre der Zeitraum der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe voll anzurechnen gewesen:

§ 51 [StGB] Anrechnung

(1) Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf zeitige Freiheitsstrafe und auf Geldstrafe angerechnet.

Das Landgericht Göttingen stützt sich hinsichtlich der Nichtanrechnung auf den zweiten Absatz des § 51 StGB:

Das Gericht kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist.

Die Prozessverschleppung habe der Verurteilte zu vertreten.

Strafrechtliche und verfassungsrechtliche Einordnung

§ 51 StGB ist im Kontext der gesetzlichen Bestimmungen zur Untersuchungshaft und den im Grundgesetz verankerten rechtsstaatlichen Prinzipien zu sehen.

Das Landgericht bestraft den Verurteilten letztlich mit fünf Monaten zusätzlicher Freiheitsstrafe. Die Frage ist, ob dies grundgesetzkonform ist.

Grundsätzlich ist Untersuchungshaft keine Freiheitsstrafe, sondern ein Instrument zur Sicherung des Strafverfahrens. Ein dringend Tatverdächtiger soll beispielsweise aufgrund von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr inhaftiert werden, damit ein Strafprozess rechtsstaatskonform durchgeführt werden kann. Stellt sich heraus, dass der Tatverdächtige nicht verurteilt wird, ist er umgehend aus der Untersuchungshaft zu entlassen und zu entschädigen.

Weil die Untersuchungshaft keine Strafe ist, wird die Zeit der Untersuchungshaft auf die Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet. Andernfalls wäre die Untersuchungshaft doch eine Strafe.

Nun will das Landgericht Göttingen einen Teil der Untersuchungshaft, nämlich fünf Monate, nicht anrechnen, um den Verurteilten für den Prozessverlauf zu bestrafen. Sowohl § 51 Abs. 2 StGB selbst als auch die Anwendung durch das Gericht müssen daher den Ansprüchen, die das Grundgesetz an Freiheitsstrafen stellt, genügen.

Bestimmtheitsgebot

Art. 103 Abs 2 GG bestimmt:

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war

Der § 51 Abs. 2 StGB wird dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG aber nicht gerecht:

Das Gericht kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist.

Aus dem § 51 Abs. 2 StGB ergibt sich nicht, welches schuldhafte Verhalten in welchem Umfang eine Umwandlung von Untersuchungshaft in Freiheitssstrafe rechtfertigen würde.

Dem Landgericht Göttingen ist zwar zuzustimmen, dass der Bundesgerichtshof, Verfahrensverschleppungen als Kriterium zulässt, allerdings befasst sich das Bundesgerichtshof auch nicht mit den Anforderungen aus dem Bestimmtheitsgebot in Art. 103 Abs. 2 GG. Einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung dürften die Urteile nicht bestehen.

Verfahrensverschleppung

Das Gericht rechnet dem Verurteilten die lange Prozessdauer an. Tatsächlich sind mehr als 50 Verhandlungstage für einen nicht allzu komplexen Sachverhalt und das verfahrensgegenständliche Delikt kaum unter prozessökonomischen Aspekten gegenüber dem Steuerzahler zu rechtfertigen.

Unabhängig davon, dass Prozessbeobachter den Eindruck haben, dass der verurteilte Rainer Fuellmich die Verhandlungstage zur Selbstdarstellung nutzte und auch seine Verteidiger dirigierte, lag die Verantwortlichkeit für die Verhandlungsleitung beim Gericht, §§ 238, 243 ff. StPO. Das Gericht hätte beispielsweise bezüglich der Beweisanträge Fristen setzen können. Auch hinderte die StPO den Richter keineswegs daran, unsinnige Beweisanträge zurückzuweisen. Vielmehr hatte das Gericht sicherzustellen, dass der Sachverhalt zügig aufgeklärt und dem Verurteilten sein Anhörungsrecht gewährt wird, Art. 103 Abs. 1 GG. Soweit der Verurteilte von seinem Anhörungsrecht Gebrauch gemacht hat, kann ihm kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden. Soweit das Gericht von einem Fehlverhalten der Prozessbeteiligten im Verfahren ausgeht, hätte es mit ordnungsrechtlichen Mitteln durchgreifen können, §§ 177 ff. GVG. Dies gilt auch in Hinblick auf den Verurteilten Fuellmich. Weil das Gesetz Ordnungsmittel vorsieht, auf die das Gericht nicht zurückgriff, bleibt für die Anwendung des § 51 Abs. 2 StGB kein Raum. Das überwiegende Verschulden ist hier beim Gericht selbst zu suchen.

Strafprozessuale Einordnungen

Das Gesetz hat die Untersuchungshaft streng als Strafverfahrenssicherungsinstitut ausformuliert. Die Untersuchungshaft soll kein Urteil vorweg nehmen und keine Strafe darstellen, sondern lediglich eine Verurteilung durch ein rechtsstaatliches Verfahren unter Anhörung des Angeklagten ermöglichen.

Flucht und Fluchtgefahren

Der Haftbefehl zur Untersuchungshaft wird nicht aufgrund einer Verurteilung ausgestellt, sondern weil jemand dringend tatverdächtig ist und einen Haftgrund, gemäß § 112 StPO liefert. Es ist eine strafverfahrenssichernde Maßnahme.

Gegen den verurteilten Rainer Füllmich wurde ein Haftbefehl ausgestellt, weil er sich in Mexiko abgesetzt hatte, also flüchtig war. Bei späteren Haftprüfungen wurden Fluchtgefahr festgestellt.

Grenzen der Untersuchungshaft

Es liegt auf der Hand, dass eine Untersuchungshaft nicht unbegrenzt angeordnet werden kann.

Die Untersuchungshaft endet stets, wenn der Haftgrund entfällt, also kein Verfahrenssicherungsbedürfnis fortbesteht, wenn eine Freiheitsstrafe durch Urteil vollstreckt werden kann, § 116 StPO, im Regelfall nach sechs Monaten, spätestens darüber hinaus, wenn die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr zu rechtfertigen ist, 121 StPO, z.B. weil das zu erwartende Strafmaß erreicht werden würde.

Wer zu Unrecht inhaftiert worden ist, hat einen Schadensersatzanspruch, § 2 StrEG. Zu Unrecht ist jemand inhaftiert, wenn er später freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wurde oder die Untersuchungshaft verfahrenswidrig angeordnet wurde.

Fazit

In letzter Zeit häufen sich strafrechtliche und auch verwaltungsrechtliche Fehlurteile im Kontext zu den Grundgesetzen. Zur Zeit kursieren auch in den Printmedien insbesondere Fehlurteile zu den Meinungsäußerungsrechten der Bürger im Verhältnis zu den Politikern. Dies ist aber leider nur die Spitze vom Eisberg. Den Richtern scheint zunehmend der Bezug zum Grundgesetz abhanden gekommen zu sein. Auch dieses Urteil belegt diese Entwicklung.


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